Schmetterlinge weinen nicht
Wer aber einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zum Abfall verführt, für den wäre es besser, dass ein Mühlenstein an seinem Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist.
Neues Testament, Matthäus 18.6
Kapitel 1
Minden, 2019, 10. Juli
Das Video auf dem Computer zeigte die abscheuliche Vergewaltigungsszene eines Kindes. Der Zuschauer wandte sich angeekelt ab, er hatte genug gesehen. Er war einfach zu viel für Hauptkommissar Ewald Schüler vom Landeskriminalamt Hannover in Niedersachsen, er konnte es nicht länger ertragen.
„Mach diesen fürchterlichen Dreck endlich aus“, wies er barsch und befehlend einen der beistehenden Beamten an, der eiligst auf die Austaste des Computers drückte.
Schüler hatte wieder einmal schlechte Laune. Es kam in letzter Zeit immer öfter vor, dass er wegen Kleinigkeiten seinen Frust an andere abreagierte. Die Kollegen des Sonderkommandos Stylian mochten ihren Chef aber waren immer gut beraten, ihm bei seinen Launen aus dem Weg zu gehen. Ewald Schüler war Ende fünfzig, stand kurz vor seiner Pensionierung und der harte Job bei der Kriminalpolizei hatte seine Spuren hinterlassen. Sein zu früh ergrautes Haar, die tiefen Falten im Gesicht und seine Essstörungen, die durch ein saftiges Magengeschwür hervorgerufen wurden, waren Zeugen seines unbarmherzigen Berufs. Er war ein großer hagerer Mann mit ehemals strahlend blauen Augen, die aber heute meist rotgerändert von versäumtem Schlaf leblos und verloren wirkten. Schüler war seit Ewigkeiten im Polizeidienst tätig, er hatte den Beruf von der Pike auf gelernt. In jungen Jahren hatte er sich schnell im Einbruchsdezernat, Raubdezernat und in der Abteilung für Sexualstraftäterverfolgung als umsichtiger Ermittler einen Namen gemacht. Dann folgte der Aufstieg ins Landeskriminalamt. Vor fünf Jahren hatte man ihn damit beauftragt, eine neue Sonderkommission zu gründen und zu leiten, die direkt die ständig wachsende Kriminalität der Kinderpornografie bekämpft. Das war die Geburtsstunde der Soko Stylian. Schüler hatte die Abteilung Stylian nach einem Einsiedlermönch aus der römischen Provinz Paphlagonien benannt. Der Mönch Stylian erreichte wegen seines tugendhaften Lebens, das von Fasten und Gebet geprägt war, große Bekanntheit, die von Wunderheilungen weiter verstärkt wurde. Besonders die Heilung zahlreicher Kinder, Säuglinge und Schwangeren brachte ihm das Attribut des Schutzheiligen der sowohl geborenen als auch ungeborenen neuen Erdenbürger ein. Schüler verstand sich selbst als eine Art Schutzpatron für den Nachwuchs und fand den Namen für seine Sonderkommission angemessen. Oft wurde er gefragt, woher die Namensgebung der Einheit stammte, wobei er dann immer erklärend auf den Heiligen Stylian verwies, mit der Gewissheit, dass die Fragenden es schon nach wenigen Augenblicken wieder vergessen hatten.
Nachdem das Video ihm nicht mehr auf die Nerven ging, riss Schüler sich aus seinen düsteren Gedanken in die Gegenwart zurück. Er wusste, er konnte ein Ekel sein. Im Grunde tat es ihm auch leid, aber der Job in diesem Umfeld des Verbrechens hatte ihn an seine Grenzen gebracht. Der frühe Tod seiner geliebten Frau vor drei Jahren hatte ihm zusätzlich die letzten Lebensfreuden genommen. Er widmete sich seitdem, wenn er nicht gerade auf Verbrecherjagd war, ganz und gar seinem einzigen Hobby, das Lesen von Büchern. Sie boten ihm eine Flucht aus einer seiner Ansicht nach vermehrter verrohender und ichbezogener Gesellschaft. Er verstand viele Dinge in seiner Umwelt nicht mehr, konnte die seelisch moralische Verarmung der Menschen nicht nachvollziehen. Sein Beruf konfrontierte ihn obendrein zusätzlich täglich mit dem Abyss des Menschlichen. Er wusste nicht, wie lange er sein eigenes Seelenheil noch bewahren konnte. Verzweiflung bekam sein fortdauernder Begleiter. Schüler war müde, gegen das ewig Böse zu kämpfen. An vorderster Front der Menschlichkeit den Kampf des Don Quichotte, die aussichtslose Torheit, durch seinen weltfremd gewordenen Idealismus, seine zum Scheitern verurteilten Anstrengungen fortzuführen.
Obwohl sein Team und er heute einen anerkannten Erfolg vorweisen konnten, fühlte er sich deshalb keineswegs froh. Am Morgen hatte die Soko Stylian einen telefonischen Hinweis aus der Bevölkerung bekommen und sofort eine groß angelegte Razzia unternommen. In einem Haus am Stadtrand von Minden wurden daraufhin mehrere Personen festgenommen. Die Verhafteten, drei Männer im Alter von zwanzig bis vierzig und eine Frau Mitte dreißig, wurden noch vor Ort bei der Ausübung des sexuellen Missbrauchs zweier Minderjährigen, von sieben und zwölf Jahren, von den Beamten überrascht. Sie wurden nicht nur bei ihren körperlichen Übergriffen an den Unmündigen gefasst, sondern auch dabei, wie sie Videoaufnahmen ihrer verbrecherischen Handlungen machten. Wie sich später herausstellte, hatten die pädophilen Männer und die Frau seit Jahren in dem Haus, wechselweise immer wieder Kinder missbraucht. Sie hatten ihre monströsen Taten dabei gefilmt und ins Internet gestellt. Sie kamen sofort in Untersuchungshaft und würden mit langjährigen Haftstrafen rechnen müssen. Doch was heißt in Deutschland schon langjährig? Mit einem guten Anwalt waren sie in drei bis fünf Jahren wieder draußen.
Die beiden traumatisierten Kinder im Alter von sechs und acht aber hatten lebenslänglich bekommen. Die Jungs würden nie wieder zu einem normalen Leben zurückfinden können. Sie wurden zwar zur medizinischen und psychologischen Betreuung in eine nahe gelegene Kinderklinik gebracht, aber die seelische Gewalt, die ihnen angetan worden war, konnte man nicht heilen. Die Jungen würden mit den Narben groß werden, sie werden verblassen, aber niemals ganz verschwinden, wusste Schüler aus seinen Erfahrungen mit anderen Opfern. Die Eltern der Kinder waren verständigt worden und die Jugendschutzbehörde würde nach Überprüfung der Fakten für eine Rückführung zu ihren Familien sorgen. Als die Ärzte der lokalen Ambulanz mit den Kleinen das Haus verließen, sahen Schüler und sein Kollege Reuter vom Fenster aus zu, wie sie abtransportiert wurden.
„Erst nach ihrer Untersuchung werden wir die genauen Umstände ihres Martyriums klären können. Es ist immer wieder das gleiche Drama. Die armen Kinder werden von diesen Pädophilen missbraucht und sich nie wieder von ihren schrecklichen Erlebnissen erholen. Es ist nur zum Kotzen“, sagte Hauptkommissar Schüler mit resignierendem Tonfall zu seinem Kollegen Reuter.
Ihm war plötzlich speiübel und schwindelig, sein Magengeschwür machte sich wieder bemerkbar. Alles um ihn herum vollzog sich auf einmal wie in einem Nebel und spielte sich nur noch in Zeitlupe ab. Er fühlte sich wie in einem Theater, als Zuschauer einer Shakespier Tragödie, der aus einer anderen Sphäre einer für ihn unwirklichen Dimension, die tragischen Geschehnisse um sich herum verfolgt.
„Ja Chef, mir geht der perverse Kram auch immer wieder an die Nieren“, stimmte ihm sein Assistent, Hauptkommissar Reuter zu.
Reuter hatte in den letzten Monaten den sich verschlechternden Gemütszustand seines Chefs sehr wohl wahrgenommen. Er machte sich Sorgen um seinen Freund und Kollegen. Er und Schüler arbeiteten seit Jahren gemeinsam und seit dem ersten Tag der Soko Stylian ermittelten sie unermüdlich zusammen an zahlreichen Fällen von Kinderschändern. Darüber hinaus waren sie privat gute Freunde geworden, die einander respektierten, aber Beruf und Privatsphäre strikt voneinander trennten. Franz Reuter war Mitte vierzig von unscheinbaren Äußeren, ein Mann, den man sieht und sich fünf Minuten später nicht an ihn erinnern kann. Verheiratet mit zwei kleinen Kindern im Vorschulalter war er Durchschnittsbürger, der in einer ruhigen Durchschnittswohngegend in einem Durchschnittseinfamilienhaus wohnte. Kaum jemand in seinem Bekanntenkreis wusste von seinem Beruf und wenn, dann hatten sie keine Ahnung von der Hölle des Verbrechens, mit der er ständig zu tun hatte. Er konnte auch schlecht jemanden erzählen, wie z. B. ach ja, gestern habe ich einen alten Pädophilen dabei erwischt, wie er einen Sechsjährigen gevögelt hat. Oder ein Stiefvater hat seine zwölfjährige Stieftochter jahrelang zum Oralsex gezwungen. Das war kein Feierabendgespräch beim Bier oder Grillfest oder für die Geburtstagsfeier. Franz Reuter musste das alles in sich hineinfressen, allein mit seinen Kollegen konnte er etwas reden. Auch aus diesem Grund, aber nicht nur hasste er die pädophilen Kinderschänder abgrundtief und vertrat eine harte Linie gegenüber den Verbrechern. Schüler war der Einzige, der ihn verstehen konnte, denn sie waren sich in dem Punkt sehr ähnlich. Um seinen Freund aus seiner finsteren Laune zu holen, erzählte ihm Reuter von ihrem besonderen Fund.
„Du kannst dir nicht vorstellen, was wir außerdem noch im Keller gefunden haben, Chef. In einem der hinteren Räume gab es einen kompletten IT-Raum. Wir haben Festplatten mit mehr als 500 Terabyte hochverschlüsselter Daten sichergestellt. Es muss sich hier um einen hochprofessionellen Kinderpornoring handeln. So wie es aussieht, geht der sogar weit über die Grenzen Deutschlands hinaus“.
Sie gingen gemeinsam in den von Reuter beschriebenen IT-Raum und bestaunten die professionelle Anlage.
„Mann, das hat ganz den Anschein, als ob dies hier wirklich nur die Spitze des Eisberges ist“, murmelte Schüler, angewidert von der Vorstellung, welche Ausmaße das Verbrechen annehmen würde, wenn sie die ganzen Daten sichten.
Der Raum war mit der allerneusten Technik ausgerüstet und der Gedanke an 500 Terrabyte abscheulichsten, menschenunwürdigen digitalisierten Abschaumes, machte ihn krank. Er wusste im gleichen Augenblick, dass ihre Arbeit gerade erst begonnen hatte. Stundenlange Auswertungen des Materials lagen vor ihnen. Die Sichtung der Videos würde ihnen manchen Albtraum bescheren. Selbst die erfahrensten Kriminalbeamten, er und Reuter war solche stießen an die Grenzen des menschlich erträglichen und weit darüber hinaus. Dies wusste Schüler nur zu gut, er durchlebte es schließlich immer wieder. Die schrecklichen Bilder gingen einem nicht mehr aus dem Kopf und nicht wenige der ermittelnden Kriminalbeamten ließen sich meistens ganz schnell in ein anderes Dezernat versetzen. Als Polizist Verbrechen zu lösen ist eine Sache, aber unmenschliche Gräuel mental zu verarbeiten, darauf bereitete die Polizei die Beamten nicht vor.
Nach der letzten polizeilichen Kriminalstatistik, die Schüler kürzlich gelesen hatte, gab es im Jahr 2018 allein fast 14.000 Fälle von sexueller Gewalt gegenüber Kindern. Das waren im Schnitt 40 sexuelle Übergriffe pro Tag mit einer von Jahr zu Jahr steigenden Tendenz. Außerdem gab es 7.449 Vorkommnisse von Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung von Kinderpornografie. Auch diese Zahlen stiegen jährlich, im letzten Jahr sogar um fast 14 Prozent. Hauptkommissar Schüler wusste aber gleichzeitig, dass die Dunkelziffer noch wesentlich höher lag. Forschungen hatten ergeben, dass jeder siebte bis achte in Deutschland sexuelle Gewalt in Kindheit oder Jugend erlitten hat.
„Was gibt es nur für widerliche Menschen “, sagte einer der nahestehenden Beamten in Uniform, der kopfschüttelnd an der Tür stehend, einen Blick auf die Computer geworfen hatte.
„Zum Glück haben wir hier die Scheißtäter drangekriegt. Mit etwas Glück kriegen die sogar die Höchststrafe von zehn Jahren, was meiner Meinung immer noch viel zu wenig ist. Aber die Arschlöcher, die sich diesen Schmutz reinziehen, kommen mit maximal zwei Jahre davon und kriegen diese oft auch noch Bewährung. Wenn man bedenkt, dass ein Ladendieb bis zu fünf Jahre Knast bekommen kann, muss man sich nicht wundern, dass in unserem Staat eine rechte Partei Zulauf bekommt“, antwortete ein anderer Kollege.
Schüler verstand die Frustration seiner Kollegen nur zu gut. Hunderttausende Kinder jeden Alters, auch Babys, werden oft mit unglaublicher Brutalität missbraucht, – meist von Männern, doch nicht ausschließlich, es gibt sogar Frauen unter den Tätern. Des Öfteren tauchen Fotos und Filme von Kinderschändern beiderlei Geschlechts im Internet auf. Die Betrachter solcher Aufnahmen sitzen weltweit zu Zehntausenden vor ihren Monitoren. Daheim in Büros oder Hotelzimmern, geben sie sich ihren gestörten sexuellen Fantasien hin, viele davon auch in Deutschland. Sie waren genauso schuldig wie die Täter, die sie heute festgenommen hatten, die ihre Opfer malträtierten, filmen und fotografieren. In Schüler und Reuters Augen waren die Betrachter genauso Verbrecher, das war seine feste Überzeugung. Sie erzeugten eine Nachfrage, die das abscheuliche Geschäft mit den schwächsten, unschuldigsten unserer Gesellschaft, unseren Kindern erst möglich machten. Diese Kinder blieben bildlich gesprochen ein Leben lang Opfer, denn das Internet vergisst nicht. Jeder Klick auf ein Foto oder einen Film kann als neuer Missbrauch gewertet werden. Hinzu kommt noch eine den Taten unverhältnismäßige Strafverfolgung durch die Justiz.
Laut Paragraf 176 des Strafgesetzbuches heißt es:
„Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder sich von dem Kind vornehmen lässt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft.“
In den meisten Fällen werden Täter aber als arme Kranke abgetan, von Richtern mit milden Strafen und einem Strafmaß von unter zwei Jahren belegt. Diese wird oft auch noch auf Bewährung ausgesetzt. Ein Grund dafür ist, damit die Gefängnisse entlastet werden, denn unter zwei Jahren muss man nicht zwingend in den Knast. Es ist fast lachhaft, wenn es nicht so unendlich traurig wäre. Achtundachtzig Prozent der deutschen Bürger ist für höhere Strafen, hatte er kürzlich einer Umfrage entnommen, aber der Staat reagiert nicht mit einer strengeren Gesetzgebung.
Schüler hatte vor Jahren in einem Urlaub in Singapur erfahren, dass dortzulande pädophile Missbrauchstäter selten unter 20 Jahre weggesperrt wurden und zusätzlich noch Stockhiebe bekamen. Die niedrigen Statistiken in dem Stadtstaat gaben der strengen Gesetzgebung recht, es gibt dort wenig Missbrauch an Kindern. Natürlich stoßen Stockhiebe bei sozialen Weltverbesserern auf Unmut, aber die Täter als arme Kranke, die therapiebedürftig sind, abzutun, konnte er auch nicht nachvollziehen. Nicht, nachdem was er alles erlebt und gesehen hatte.
„Lasst uns zusammenpacken und dann raus hier, den Rest soll die Spurensicherung machen“, rief Reuter seinen Kollegen zu.
„Gut Franz wird auch Zeit, ich bekomme hier bei diesen unfassbaren Dingen keine Luft mehr“, antwortete Schüler erleichtert, das Haus verlassen zu können.
Kapitel 2
Greetsiel, 1977, 3. September
Das Schicksal spielt dem Unschuldigen oft übel mit und mit den unvorhergesehenen Konsequenzen muss er sich ein Leben lang plagen. Ich kann nicht sagen, warum es mich gerade an diesem fürchterlichen Tag auserwählt hatte, aber so war es nun einmal. Ein arglistiges Spiel zwischen dem Teufel, dem Sensenmann und dem Schicksal hatte stattgefunden. Sie spielten, wie seit aller Ewigkeit, ihre grausamen Partien um die Seele, den Tod sowie das Leben. Ein jeder bekam am Ende, was er begehrte. Der Teufel, die Seele, der Sensenmann, den Tod, das Schicksal, das Leben. Es lag an Heimtücke, Intriganz und Zweifel, die ständigen Begleiter dieses Spiels, dass es nie in der Lebensgeschichte einen richtigen Gewinner gab. Der Teufel und der Sensenmann waren ständig eifersüchtig auf das Schicksal und machten seinen Preis in diesem Fall mein Erdenleben, niemals einfach. Doch welches Leben hatte ich mir oft die Frage gestellt, ist das schon.
Alles hatte an dem Tag begonnen, als das kleine Fischerboot meiner Familie sich durch die mit weißen Schaumkronen besetzten Wellenkämme der aufgewühlten Nordsee kämpfte. Unser in Greetsiel beheimateter Krabbenkutter ächzte beschwerlich in dem von Minute zu Minute stärker werdenden Seegang. Es war nicht leicht, in der schweren See den Kurs zu den Fanggründen vor dem Riff der vorgelagerten Ostfriesischen Inseln zu halten. Immer wieder schlug der Rumpf des Bootes seitlich in die stetig größer werdenden Brecher. Bei jedem Manöver des Schiffes schossen die Wassermassen sintflutartig übers Deck, schüttelte meinen Bruder und mich hin und her. Die tückische Nordsee zeigte wieder einmal ihre berühmte Unberechenbarkeit in einem immer stärker werdenden Sturm. Radiomeldungen der regionalen Küstensender hatten frühzeitig alle Schiffe vor dem Auslaufen gewarnt, aber der alte Sturkopf Aarhus, mein Vater, wollte davon absolut nichts wissen. In seiner bekannten Engstirnigkeit und verbohrten Eigensinn hatte er trotzdem mit seinem Kutter den schützenden Hafen verlassen. Er sei schließlich derjenige, der das Geld für die Familie verdienen musste, und das brachte nur der Krabbenfang, war seine einzige Entschuldigung an uns, seine beiden Söhne.
„Der versoffene Alte bringt uns noch um mit seinen Scheißkrabben“, schrie Jens, mein eineiiger Zwillingsbruder, mir zu, als auch schon der nächste kapitale Brecher mit brachialer Gewalt über die Bordwand unseres kleinen Krabbenkutters krachte.
Seit Stunden kämpften wir mit den unerbittlichen Elementen, holten Netz für Netz von den Tiefen des Meeresbodens. Der Laderaum war prall gefüllt und es war ein guter Fang trotz, oder gerade wegen der gefährlichen Wetterlage. Vielleicht spielte auch der Umstand, dass wir das einzige Boot, das bei diesem Unwetter hier draußen war, dabei eine Rolle.
„Das ist das letzte Netz und dann ist Schluss. Wir müssen zurück in den Hafen, sonst saufen wir noch ab bei diesem Sauwetter“, rief ich durch den tosenden Wind zurück.
Durchnässt und ebenso fröstelnd wie ich selbst, stand mein Bruder Jens in seinem gelben, wasserfesten Ölzeug mit den schwarzen hohen Gummistiefeln und der Kapuze tief ins Gesicht gezogen, an Deck. Er grinste mich an, hob den Daumen und signalisierte damit seine Zustimmung.
Jens und ich verstanden uns blind, wie es eben eineiige Zwillinge tun. Wir brauchten nie viele Worte. Seit frühster Jugend hatten wir eine Art telepathische Verständigung und waren uns meistens einig, speziell wenn es um unseren Alten ging.
Wir waren die einzigen beiden Söhne von Albrecht Aarhus, in vierter Generation Granatfischer in Greetsiel, einem winzigen Ort an Ostfrieslands Küste. Wir lebten zusammen mit unseren Eltern in einem kleinen roten Backsteinhaus hinterm Deich. Mutter war Hausfrau und wir, die Söhne halfen, wie es seit jeher Brauch war, dem Vater beim Fang des kostbaren Granats, wie die Garnelen der Nordsee landläufig genannt wurden. Falls es nach dem Willen unseres Alten gehen würde, war unsere berufliche Laufbahn vorbestimmt. Genauso wie alle unsere Vorfahren auch, würden Jens und ich einmal Krabbenfischer werden. Mein Bruder, im Gegensatz zu mir liebte das Meer und ihm gefiel das lockere Fischerleben. Ich aber hatte andere Pläne für mein Leben. Danach fragte der Alte jedoch nicht, für ihn stand fest, beide Söhne werden in seine Fußstapfen treten und damit Ende der Diskussion. Als eineiige Zwillinge waren Jens und ich jeweils das Spiegelbild des anderen. Alle Leute im Dorf verwechselten uns ständig, was wir oft genug zu unserem Vorteil ausnutzten. Mit einer stattlichen Größe von 185 cm waren wir für unsere 17 Lenze hochgewachsene Burschen. Es war aber zu bezweifeln, dass wir noch größer wurden, unsere früh einsetzende Wachstumswut hatten wir genauso zeitig beendet, wie sie begann. Jens sowie ich hatten beide dichte, blonde Haare, stahlblaue Augen, waren von kräftiger Statur und hatten markante männliche Gesichter. Unser vorteilhaftes Aussehen machte in Greetsiel manchen Vater der Töchter im Teenager Alter hatte große Sorgen. Was soll ich sagen, wir standen bei den jungen Mädchen sowie auch mancher verheirateten Frau im Dorf, halt hoch im Kurs. Man konnte von uns behaupten, was man wollte, aber mein Bruder und ich waren in dieser Hinsicht ganz bestimmt keine Kinder von Traurigkeit. Es gab wegen unserer vielen Amouren schon einigen Stunk und viele gebrochene Herzen in Greetsiel und Umgebung.
Ein weiterer Brecher schlug über die Bordwand und das salzige, eiskalte Meerwasser schwappte über das Deck. Der Alte, wie wir unsern Vater immer abfällig nannten, hielt sich bei den Fangfahrten vor der Küste nur im Ruderhaus des Kutters auf. Von dort steuerte er, der Kapitän, wie er sich großkotzig betitelte, hoch und trocken das Boot. Seine zweite Aufgabe war es, vom Steuerhaus die Winden für die Netzeinholung zu betätigen. Am wichtigsten war es für ihn, dort konnte er in Ruhe seinen Rum trinken und seinen Söhnen die Befehle zuschreien. Wir verabscheuten seine Tyrannei, sein despotisches Gehabe, vor allem aber seine gewalttätigen Neigungen zutiefst. Speziell, wenn er trank, was fast immer der Fall war, schlug er außerdem gerne einmal zu. Wenn ihm etwas nicht in den Kram passte, musste unsere Mutter und oft genug auch wir seine Söhne herhalten. In letzter Zeit aber konnte er, da wir ihm zu groß geworden waren, seine unkontrollierten, wilden Wutausbrüche nicht mehr so richtig an uns auslassen. Ich hatte dem Alten bei einer seiner üblichen, versoffenen Eskapaden sogar gedroht, ihn umzubringen, wenn er auch nur noch einmal versuchen würde, seine Hand gegen uns zu erheben. Dumm war der Alte keineswegs, und er wusste genau, wann er seine Grenzen bei mir und Jens erreicht hatte. Dafür wandte sich seine Gewalt heimlich mehr unserer Mutter zu. Aus Angst davor, wir würden dem Alten etwas antun, ihre blauen Flecken immer geschickt vor uns verbarg. Sie verteidigte den alten Säufer obendrein, anstatt ihn wegen seiner üblen Misshandlung anzuzeigen. Wir konnten nichts dagegen tun. Mutter war vom alten Schlag und hielt zu ihrem Mann. In guten wie in schlechten Zeiten, wie es so schön hieß.
Was ist das nur für ein elendes Scheißwetter, dachte ich im Stillen bei mir. Meine Befürchtung war, dass das kleine Lüftchen, wie der Alte es abfällig nannte, sich mehr und mehr zu einem ausgewachsenen Orkan entwickelte. Am Horizont konnte ich die sich auftürmenden schwarzen Wolken sehen, die unheilvoll drohend ihre ersten Blitze wie apokalyptische Reiter der Hölle in sich tanzen ließen. Ein Inferno der Naturgewalt bahnte sich an, das mit seinen Vorboten von ständig zunehmenden starken Böen immer höherschlagenden Wellen seinen Respekt verlangte.
„Wir müssen schnellstens zurück in den Hafen, es ist reiner Selbstmord unter diesen Bedingungen weiter zu fischen. Scheiß auf das letzte Netz“, schrie ich meinem Bruder zu.
„Du hast ja recht, Sven, aber der Alte will von alldem nichts wissen, Sven“, rief Jens zurück.
„Ihr sollt hier nicht rumschnattern, ihr Memmen und nichtsnutzige Landratten, macht gefälligst eure Arbeit und pisst euch nicht gleich in die Hose bei dem bisschen Wind“, schimpfte der Alte wie Kapitän Ahab bei Moby Dick aus dem Ruderhaus und nahm einen tiefen Schluck aus seiner Flasche Rum.
Ich hatte früh gelernt, dass zum Einholen der Netze, der Kutter in den Wind gefahren wird, das heißt Wind und Wellen kommen von vorne, damit das Schiff möglichst ruhig liegt und bei Seegang nicht rollt. Dafür sind viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl angesagt, da die Bäume mit den nassen und gefüllten Netzen ein großes Gewicht, weit über der Wasserlinie tragen. Die Gefahr bei solch einem Manöver aufgrund des hohen Schwerpunktes zu Kentern war nicht zu unterschätzen. Der Alte schrie aus dem Ruderhaus den Befehl, die Netze einzuholen. Mit gebeugten Körpern und gestreckten Armen zogen Jens und ich gleichzeitig die Bäume Steuerbord wie Backbord, mit den Kurren, an denen die Netze mit dem allerorts begehrten Granat hängen, über den Auffangtrichter. Nachdem mein Steuerbordnetz seine Fracht ausgespuckt hatte, neigte sich der Kutter plötzlich gefährlich zur Backbordseite.
„Der Alte hat die Kontrolle verloren, wir sind aus dem Wind“, schrie Jens aufgeregt und haderte mit seinem Netz.
In letzter Sekunde konnte er die Leine für den Auswurf noch ziehen, aber der Fang des Backbordnetzes ergoss sich in einem Schwall übers Deck und nicht in den Auffangtrichter. Der ganze Granat, Fisch, Krebse sowie anderes Meeresgut lag auf den Decksplanken verteilt und bildete eine gelbbraune zuckende Masse.
„So ein versoffenes Arschloch“, fluchte ich laut. „Wir rollen, der Alte kann den Pott nicht mehr halten“, schrie ich in den Wind.
Im gleichen Augenblick wurde der Kutter von einer schweren Welle seitlich erfasst und mit großer Wucht zur Steuerbordseite geworfen. Ich konnte mich gerade noch an einer Leine festhalten, sonst wäre ich über Bord gespült worden. Froh darüber, dass sich das Boot wieder stabilisierte, blieb mir im gleichen Moment die Fröhlichkeit im Hals stecken. Wo war mein Bruder Jens, ich konnte ihn nirgends mehr an Deck ausmachen. Panik erfüllte mich sofort durch und durch eine brutale Wahrheit nahm ungewollt Besitz von meinem Denken. Mit weit aufgerissenen Augen suchte ich die Meeresoberfläche ab. Dann sah ich entfernt hinter dem Kutter etwas Gelbes im Meer treiben, Jens schoss es mir sofort durch den Kopf, das kann nur er sein.
„Mann über Bord“, schrie ich, wie vom Teufel beseelt und rannte zum Ruderhaus, wo mein Vater sich krampfhaft mit irrem Blick in den Augen am Steuerruder festhielt. Er blutete aus einer leichten Platzwunde an der Stirn. Eine fast leere Flasche Rum rollte im Steuerhaus auf dem Boden von einer Seite zur anderen, ergoss ihren letzten Inhalt über die Deckplanken.
„Hast du mich nicht gehört, du alter, versoffener Nichtsnutz?“, schrie ich ihn an. „Jens ist über Bord gegangen, dreh bei, wir müssen ihn sofort aus dem Meer holen“.
Als der Alte immer noch nicht reagierte, nur teilnahmslos vor sich hinstarrte, nahm ich ihn einfach bei Schulter und schob ihn beiseite. Er fiel auf den Boden, aber das interessierte mich wenig. Ich riss das Ruder herum und versuchte verzweifelt durch die Scheibe des Ruderhauses das gelbe Ölzeug meines Bruders zwischen den auf- und absteigenden Wellenkämmen auszumachen. Doch so sehr, wie ich mich auch anstrengte, ihn irgendwo im Wasser ausfindig zu machen, es war alles vergeblich, ich konnte ihn nirgends mehr entdecken. Über den Seenotrettungsruf informierte ich umgehend die Behörden, gab ihnen unsere Koordinaten durch und hoffte inbrünstig auf schnelle Hilfe. Aber irgendwie in meinem Inneren wusste ich, es würde für Jens keine Rettung mehr geben. Die untrügliche Befürchtung traf mich wie ein Keulenschlag. Das Meer hatte sich Jens geholt, wie so viele vor ihm. Der Alte saß mit hilflosem Blick auf den Decksplanken des Steuerhauses und lallte unverständliche Wörter vor sich hin. Ich kreuzte mit dem Kutter noch eine weitere halbe Stunde vor und zurück, doch ich konnte nirgendwo etwas im Meer entdecken. Ich durfte und wollte nicht aufgeben, die Hoffnung stirbt zuletzt, pflegte meine Mutter immer zu sagen. Doch was nutzt mir die Hoffnung, wenn die Gewissheit sie mit Füßen tritt. Unentwegt strömten jetzt Tränen mein Gesicht herunter, die sich mit den salzigen Überresten des Meerwassers zu einem bitteren Rinnsal von Trauer und Wut vermischte.
Nach einer Stunde sah ich die ersten Lichter der Seenotrettungskreuzer aus den benachbarten Küstenorten. Mit ihren starken Scheinwerfern suchten sie die tobende Meeresoberfläche ab. Sogar ein Marinehubschrauber war zur Suche hinzugezogen worden. Doch auch sie alle konnten meinen geliebten Bruder nicht finden, das Meer hatte ihn verschlungen. Unser kleiner Kutter tat sich jetzt immer schweren im heftigen Seegang und nahm zu viel Wasser auf, das die Lenzpumpen kaum noch dagegen ankamen. Ich musste, so hart es mir auch fiel, letztendlich eingestehen, dass es hoffnungslos war, meinen Bruder noch weiter zu suchen. Die unerträgliche Realität setzte plötzlich ein. Jens war ertrunken, die raue Nordsee hatte ihn verschlungen. Resigniert drehte ich den Bug des Kutters in Richtung des Hafens von Greetsiel.
Hasserfüllt blickte ich auf meinen Vater, der am Boden des Ruderhauses saß und jetzt still und leise vor sich hin weinte. Ich hatte kein Mitleid und auch kein Mitgefühl für den Trunkenbold. Er allein trug die ganze Schuld am Tod meines Bruders, ich würde ihm nie vergeben können.
Im Hafen an der unteren Kaimauer wartete bereits eine größere Menschenmenge. Die Nachricht vom tragischen Unglück auf See hatte schon die Runde gemacht. Alle möglichen Leute, Nachbarn, Fischer, Polizei, Sanitäter sowie einige Schaulustige standen mit betroffenen Gesichtern erwartungsvoll an den Kaianlagen. Sie alle wollten wissen, was sich da draußen auf dem Meer abgespielt hatte. Was ging es sie an, fragte ich mich innerlich, sollten sie alle gemeinsam zur Hölle fahren. Ich wollte mit niemanden reden, ich wollte nur fort von dem Schiff fort von meinem versoffenen Vater. Soll der Alte ihnen erzählen, wie es zu der schrecklichen Tragödie gekommen war. Das er durch seine ewige Sauferei, den Tod seines Sohnes zu verantworten hatte.
In der versammelten Menschmenge entdeckte ich meine Mutter. Nachdem ich den Kutter festgemacht hatte, sprang ich von Bord, die Menschenmenge am Kai machte bereitwillig Platz und keiner stellte sich mir in den Weg. Sie sahen mir an, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Ausnahmslos mitleidige Blicke wurden mir schweigend zugeworfen, doch es war mir egal. Ich nahm meine Mutter wortlos in den Arm und führte sie aus der Menge nach Hause. Dort erklärte ich ihr, dass der Alte durch seine Sauferei, die Schuld am Tod ihres Sohnes, meines Bruders Jens, ganz allein trüge. Ich machte ihr unmissverständlich klar, dass ich nicht länger mit ihm unter einem Dach leben konnte. Keine weitere Stunde, sonst würde ein zusätzliches Unglück passieren, waren meine genauen Worte. Daraufhin packte ich meine wenigen Sachen in meinen Rucksack, zog meinen Pass aus der Schublade an meinem Bett und steckte ein Foto meines Bruders und meiner Mutter ein. Ich küsste meine geliebte Mutter ein letztes Mal zum Abschied, versprach ihr auf mich aufzupassen. Noch am selben Abend verließ ich das kleine Backsteinhaus, in dem ich mit meinem Bruder groß geworden war. Mein Entschluss stand fest, ich wollte meinen Vater niemals wiedersehen. Der Teufel sollte sich mit seiner Seele zufriedengeben. Der Sensenmann hatte sich meinen Bruder geholt und mich bat das Schicksal, nachdem ich die ganze Nacht durchgereist war, am nächsten Morgen in die Aufnahmestelle der Fremdenlegion „Quartier Lecourbe“ – 1 Rue Ostende in Strasbourg, Frankreich einzutreten.
Kapitel 3
Greetsiel, 2019, 10. Juli
Zurück an dem Ort, wo vor mehr als vierzig Jahren mir das Schicksal so fragwürdig mitgespielt hatte, musste ich mich erst einmal neu eingewöhnen. An der windigen Küste Ostfrieslands erfreuten sich die letzten Spaziergänger auf dem Seedeich an der malerischen Idylle der untergehenden Sonnenscheibe über dem Wattenmeer der Nordsee. Die in Scharen wandernden Touristen ergötzten sich empfänglich an den satten gelben und roten teils fast violett wirkenden Farben am Himmel. Solange, bis sie in einem spektakulären, sich ständig verändernden Schauspiel mit den Wolken, wie der rinnende Sand in einer Sanduhr, ihr unaufhaltsames Ende fanden. Die romantische Atmosphäre strahlte Ruhe und Seelenfrieden aus. Doch ganz anders ging es in den belebten Straßen des kleinen Ortes Greetsiel zu. Dort spiegelte sich die andere Seite des erholsamen Tourismus wider, dass der beflissenen Urlauber, auf der Suche, nach der ungelebten Erfüllung nach Seefahrerleben. Laut und hektisch irrten die Touristen, einem Bienenstock gleichend von Geschäft zu Geschäft, Restaurant zu Restaurant, um später in den angesagten In-Kneipen ihr buntes, rastloses Treiben mit sehr viel Alkohol ausklingen zu lassen. Eine unverkennbare Mischung aus überzogener Hafenromantik, salziger Meeresluft, Kuttern, engen Gassen, Fischen, feuchten Netzen, Seetang und alten Decksplanken lockte die Urlauber in Scharen in den kleinen Ort. Trotz all der Veränderungen in den Jahren war es immer noch mein Heimatdorf und ich spürte die Verbindung in jeder Faser meines Körpers.
Es war ein schwüler Sommerabend in Greetsiel. Gegen früher war dieses bunte Treiben der Besucher schon seltsam geworden, dachte ich mir und bahnte mir mühsam meinen Weg durch die ziellosen Menschengruppen. Mit energischen Schritten strebte ich meinem Ziel eine Kneipe, an den unteren Kaianlagen des Hafens entgegen. Eins hatte sich auch nach all den Jahren meiner Abwesenheit kaum verändert, das war der ausgefallene Geruch des kleinen Kutterhafens. Der unverwechselbare Duft gab mir in irgendeiner Weise das Gefühl von alter Heimat, dass ich für so viele Jahre erfolgreich verdrängt hatte, wieder zurück. Das war auch ein Grund, warum ich seit meiner Heimkehr nach Greetsiel des Öfteren meine Abende im Hafenkieker, einem ehemaligen Lager für Nordseekrabben verbrachte. Nach meiner Rückkehr vor zwei Jahren, bei einem meiner ersten Rundgänge durch den Ort meiner Jugend, hatte ich zu meiner Verwunderung feststellen müssen, dass das alte Gebäude, in dem früher der angelandete Granat am Hafen gleich verarbeitet wurde, zu einer Kneipe umgebaut worden war. Ich lernte, dass heute der Granat zum Pulen, wie man das Schälen der Krustentiere in Ostfriesland nennt, per Luftfracht nach Marokko geschickt wurde. Es war dabei für mich nicht so richtig nachvollziehbar, dass es kostengünstiger sein sollte, als den Granat direkt hier im Herkunftsort zu verarbeiten. Früher hatten sich viele der ansässigen Familien durch das Granat Pulen ein Taschengeld dazuverdient. Unsere heutige Wohlstandsgesellschaft brauchte diese Nebeneinkünfte aber nicht mehr. Außerdem war das Pulen von Krabben eine miesbezahlte Arbeit, für die sich niemand mehr hergab. Mindestlohn in Deutschland und billige Arbeitskräfte in Marokko bedeuteten das Aus für diese Tätigkeit. Das war aber nicht das Einzige, was mir seit meiner Rückkehr im Hafen aufgefallen war. In den Siebzigerjahren gab es noch fast fünfzig Fischkutter in Greetsiel, die den einheimischen Familien des Ortes Arbeit und Lohn gebracht hatten. Heute zählte ich einmal gerade 23 Kutter an der Pier. Greetsiel hatte sich von einem kleinen verträumten Fischerdorf in eine von auswärtigen Urlaubern übernommene Touristenhochburg verwandelt. Hunderte neuer Häuser waren in den letzten Jahren ausnahmslos zum Zweck der Ferienvermietung hinterm Deich gebaut worden. Viele der schönen alten Fischerhäuser im Ort waren geschmackvoll und mit Aufwand umgebaut worden. Sie boten teilweise zusätzlich überteuerte Ferienwohnungen an oder beherbergten Kneipen, Restaurants und Souvenirshops mit Ostfriesenschnickschnack für die Touristen.
„Tempo mutantur, nos et mutamur in illis“. „Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen“, fiel mir dazu nur ein und ich musste lächeln über den Wandel der Zeit.
Unberührt vom teils pöbelhaften Treiben der rastlos lebhaften Touristen betrat ich den Hafenkieker und nahm meinen Stammplatz am hinteren Ende der Theke ein. Andrea, die blonde, immer freundliche Bedienung, stellte mir mit einem knappen Hallo freundlich lächelnd ein Jever Bier hin. Es war ihre Art von Begrüßung, wenn sie viel zu tun hatte. Sie würde später, wenn es ruhiger geworden war, Zeit finden, mit mir ein paar Worte zu wechseln. Ich ignorierte die verstohlenen Blicke sowie die tuschelnden Gespräche der wenigen Einheimischen, die sich an manchen Abenden hier auch gern mal ein Bier gönnten. Die meisten wussten, wer ich war und die Alten unter ihnen konnten sich sogar noch an das Unglück von damals erinnern. Keiner von ihnen hatte jedoch nur annähernd eine Ahnung davon, wo ich die letzten vierzig Jahre abgeblieben war. Die Gerüchte scherrten mich wenig und ich fand auch keinen Grund dafür, warum ich jemand etwas über mich erzählen sollte. Natürlich half meine Zurückhaltung anderen gegenüber nicht gerade das Gerede hinter meinem Rücken zu beenden, sondern bewirkte ganz eher Gegenteil. Mir war klar, dass ich im Ort, trotzdem ich hier geboren und aufgewachsen war, als ein Außenseiter galt. Einige wenige begannen sich aber langsam an mich zu gewöhnen und begrüßten mich freundlich.
Ich war trotz meines nicht mehr taufrischen Alters von knapp über sechzig Jahren immer noch immer eine imposante Erscheinung. Meine stattliche Größe von 185 cm, mein wettergegerbtes Gesicht, die stechend blauen Augen und meine dichten, mittlerweile grau gewordenen langen Haare, die mir bis zu den Schultern hingen, gaben mein Äußeres etwas Verwegenes. Hinzu kamen muskulöse Arme, die mit unzähligen Tattoos übersät waren, ein sichtlich durchtrainierter Körper und ein langer Schmiss, der sich über meine linke Wange bis zum Kinn erstreckte. Dass die Leute automatisch auf Abstand blieben, glaube ich, lag auch an der unübersehbaren Narbe. Sie war ein Zeuge meiner bewegten Vergangenheit und wirkte auf viele wie ein Warnzeichen, das mit mir nicht allzu gut Kirschenessen war. Ich gab nicht allzu viel auf mein Aussehen, aber auf meine strahlend weißen Zähne war ich schon immer stolz gewesen. Wenn ich einmal lächelte, was selten der Fall war, blitzten sie aus meinem Mund, verfehlten niemals ihre Wirkung auf das weibliche Geschlecht. Darüber hinaus hatte meine Stimme einen angenehmen, sonoren, sanften Ton, die, wenn ich denn sprach, meine Zuhörer sofort in ihren Bann zog.
Mit Andrea, der gutgebauten Bedienung, hatte ich mich über die letzten Monate ein wenig angefreundet und…………….
Wer aber einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zum Abfall verführt, für den wäre es besser, dass ein Mühlenstein an seinem Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist.
Neues Testament, Matthäus 18.6
Kapitel 1
Minden, 2019, 10. Juli
Das Video auf dem Computer zeigte die abscheuliche Vergewaltigungsszene eines Kindes. Der Zuschauer wandte sich angeekelt ab, er hatte genug gesehen. Er war einfach zu viel für Hauptkommissar Ewald Schüler vom Landeskriminalamt Hannover in Niedersachsen, er konnte es nicht länger ertragen.
„Mach diesen fürchterlichen Dreck endlich aus“, wies er barsch und befehlend einen der beistehenden Beamten an, der eiligst auf die Austaste des Computers drückte.
Schüler hatte wieder einmal schlechte Laune. Es kam in letzter Zeit immer öfter vor, dass er wegen Kleinigkeiten seinen Frust an andere abreagierte. Die Kollegen des Sonderkommandos Stylian mochten ihren Chef aber waren immer gut beraten, ihm bei seinen Launen aus dem Weg zu gehen. Ewald Schüler war Ende fünfzig, stand kurz vor seiner Pensionierung und der harte Job bei der Kriminalpolizei hatte seine Spuren hinterlassen. Sein zu früh ergrautes Haar, die tiefen Falten im Gesicht und seine Essstörungen, die durch ein saftiges Magengeschwür hervorgerufen wurden, waren Zeugen seines unbarmherzigen Berufs. Er war ein großer hagerer Mann mit ehemals strahlend blauen Augen, die aber heute meist rotgerändert von versäumtem Schlaf leblos und verloren wirkten. Schüler war seit Ewigkeiten im Polizeidienst tätig, er hatte den Beruf von der Pike auf gelernt. In jungen Jahren hatte er sich schnell im Einbruchsdezernat, Raubdezernat und in der Abteilung für Sexualstraftäterverfolgung als umsichtiger Ermittler einen Namen gemacht. Dann folgte der Aufstieg ins Landeskriminalamt. Vor fünf Jahren hatte man ihn damit beauftragt, eine neue Sonderkommission zu gründen und zu leiten, die direkt die ständig wachsende Kriminalität der Kinderpornografie bekämpft. Das war die Geburtsstunde der Soko Stylian. Schüler hatte die Abteilung Stylian nach einem Einsiedlermönch aus der römischen Provinz Paphlagonien benannt. Der Mönch Stylian erreichte wegen seines tugendhaften Lebens, das von Fasten und Gebet geprägt war, große Bekanntheit, die von Wunderheilungen weiter verstärkt wurde. Besonders die Heilung zahlreicher Kinder, Säuglinge und Schwangeren brachte ihm das Attribut des Schutzheiligen der sowohl geborenen als auch ungeborenen neuen Erdenbürger ein. Schüler verstand sich selbst als eine Art Schutzpatron für den Nachwuchs und fand den Namen für seine Sonderkommission angemessen. Oft wurde er gefragt, woher die Namensgebung der Einheit stammte, wobei er dann immer erklärend auf den Heiligen Stylian verwies, mit der Gewissheit, dass die Fragenden es schon nach wenigen Augenblicken wieder vergessen hatten.
Nachdem das Video ihm nicht mehr auf die Nerven ging, riss Schüler sich aus seinen düsteren Gedanken in die Gegenwart zurück. Er wusste, er konnte ein Ekel sein. Im Grunde tat es ihm auch leid, aber der Job in diesem Umfeld des Verbrechens hatte ihn an seine Grenzen gebracht. Der frühe Tod seiner geliebten Frau vor drei Jahren hatte ihm zusätzlich die letzten Lebensfreuden genommen. Er widmete sich seitdem, wenn er nicht gerade auf Verbrecherjagd war, ganz und gar seinem einzigen Hobby, das Lesen von Büchern. Sie boten ihm eine Flucht aus einer seiner Ansicht nach vermehrter verrohender und ichbezogener Gesellschaft. Er verstand viele Dinge in seiner Umwelt nicht mehr, konnte die seelisch moralische Verarmung der Menschen nicht nachvollziehen. Sein Beruf konfrontierte ihn obendrein zusätzlich täglich mit dem Abyss des Menschlichen. Er wusste nicht, wie lange er sein eigenes Seelenheil noch bewahren konnte. Verzweiflung bekam sein fortdauernder Begleiter. Schüler war müde, gegen das ewig Böse zu kämpfen. An vorderster Front der Menschlichkeit den Kampf des Don Quichotte, die aussichtslose Torheit, durch seinen weltfremd gewordenen Idealismus, seine zum Scheitern verurteilten Anstrengungen fortzuführen.
Obwohl sein Team und er heute einen anerkannten Erfolg vorweisen konnten, fühlte er sich deshalb keineswegs froh. Am Morgen hatte die Soko Stylian einen telefonischen Hinweis aus der Bevölkerung bekommen und sofort eine groß angelegte Razzia unternommen. In einem Haus am Stadtrand von Minden wurden daraufhin mehrere Personen festgenommen. Die Verhafteten, drei Männer im Alter von zwanzig bis vierzig und eine Frau Mitte dreißig, wurden noch vor Ort bei der Ausübung des sexuellen Missbrauchs zweier Minderjährigen, von sieben und zwölf Jahren, von den Beamten überrascht. Sie wurden nicht nur bei ihren körperlichen Übergriffen an den Unmündigen gefasst, sondern auch dabei, wie sie Videoaufnahmen ihrer verbrecherischen Handlungen machten. Wie sich später herausstellte, hatten die pädophilen Männer und die Frau seit Jahren in dem Haus, wechselweise immer wieder Kinder missbraucht. Sie hatten ihre monströsen Taten dabei gefilmt und ins Internet gestellt. Sie kamen sofort in Untersuchungshaft und würden mit langjährigen Haftstrafen rechnen müssen. Doch was heißt in Deutschland schon langjährig? Mit einem guten Anwalt waren sie in drei bis fünf Jahren wieder draußen.
Die beiden traumatisierten Kinder im Alter von sechs und acht aber hatten lebenslänglich bekommen. Die Jungs würden nie wieder zu einem normalen Leben zurückfinden können. Sie wurden zwar zur medizinischen und psychologischen Betreuung in eine nahe gelegene Kinderklinik gebracht, aber die seelische Gewalt, die ihnen angetan worden war, konnte man nicht heilen. Die Jungen würden mit den Narben groß werden, sie werden verblassen, aber niemals ganz verschwinden, wusste Schüler aus seinen Erfahrungen mit anderen Opfern. Die Eltern der Kinder waren verständigt worden und die Jugendschutzbehörde würde nach Überprüfung der Fakten für eine Rückführung zu ihren Familien sorgen. Als die Ärzte der lokalen Ambulanz mit den Kleinen das Haus verließen, sahen Schüler und sein Kollege Reuter vom Fenster aus zu, wie sie abtransportiert wurden.
„Erst nach ihrer Untersuchung werden wir die genauen Umstände ihres Martyriums klären können. Es ist immer wieder das gleiche Drama. Die armen Kinder werden von diesen Pädophilen missbraucht und sich nie wieder von ihren schrecklichen Erlebnissen erholen. Es ist nur zum Kotzen“, sagte Hauptkommissar Schüler mit resignierendem Tonfall zu seinem Kollegen Reuter.
Ihm war plötzlich speiübel und schwindelig, sein Magengeschwür machte sich wieder bemerkbar. Alles um ihn herum vollzog sich auf einmal wie in einem Nebel und spielte sich nur noch in Zeitlupe ab. Er fühlte sich wie in einem Theater, als Zuschauer einer Shakespier Tragödie, der aus einer anderen Sphäre einer für ihn unwirklichen Dimension, die tragischen Geschehnisse um sich herum verfolgt.
„Ja Chef, mir geht der perverse Kram auch immer wieder an die Nieren“, stimmte ihm sein Assistent, Hauptkommissar Reuter zu.
Reuter hatte in den letzten Monaten den sich verschlechternden Gemütszustand seines Chefs sehr wohl wahrgenommen. Er machte sich Sorgen um seinen Freund und Kollegen. Er und Schüler arbeiteten seit Jahren gemeinsam und seit dem ersten Tag der Soko Stylian ermittelten sie unermüdlich zusammen an zahlreichen Fällen von Kinderschändern. Darüber hinaus waren sie privat gute Freunde geworden, die einander respektierten, aber Beruf und Privatsphäre strikt voneinander trennten. Franz Reuter war Mitte vierzig von unscheinbaren Äußeren, ein Mann, den man sieht und sich fünf Minuten später nicht an ihn erinnern kann. Verheiratet mit zwei kleinen Kindern im Vorschulalter war er Durchschnittsbürger, der in einer ruhigen Durchschnittswohngegend in einem Durchschnittseinfamilienhaus wohnte. Kaum jemand in seinem Bekanntenkreis wusste von seinem Beruf und wenn, dann hatten sie keine Ahnung von der Hölle des Verbrechens, mit der er ständig zu tun hatte. Er konnte auch schlecht jemanden erzählen, wie z. B. ach ja, gestern habe ich einen alten Pädophilen dabei erwischt, wie er einen Sechsjährigen gevögelt hat. Oder ein Stiefvater hat seine zwölfjährige Stieftochter jahrelang zum Oralsex gezwungen. Das war kein Feierabendgespräch beim Bier oder Grillfest oder für die Geburtstagsfeier. Franz Reuter musste das alles in sich hineinfressen, allein mit seinen Kollegen konnte er etwas reden. Auch aus diesem Grund, aber nicht nur hasste er die pädophilen Kinderschänder abgrundtief und vertrat eine harte Linie gegenüber den Verbrechern. Schüler war der Einzige, der ihn verstehen konnte, denn sie waren sich in dem Punkt sehr ähnlich. Um seinen Freund aus seiner finsteren Laune zu holen, erzählte ihm Reuter von ihrem besonderen Fund.
„Du kannst dir nicht vorstellen, was wir außerdem noch im Keller gefunden haben, Chef. In einem der hinteren Räume gab es einen kompletten IT-Raum. Wir haben Festplatten mit mehr als 500 Terabyte hochverschlüsselter Daten sichergestellt. Es muss sich hier um einen hochprofessionellen Kinderpornoring handeln. So wie es aussieht, geht der sogar weit über die Grenzen Deutschlands hinaus“.
Sie gingen gemeinsam in den von Reuter beschriebenen IT-Raum und bestaunten die professionelle Anlage.
„Mann, das hat ganz den Anschein, als ob dies hier wirklich nur die Spitze des Eisberges ist“, murmelte Schüler, angewidert von der Vorstellung, welche Ausmaße das Verbrechen annehmen würde, wenn sie die ganzen Daten sichten.
Der Raum war mit der allerneusten Technik ausgerüstet und der Gedanke an 500 Terrabyte abscheulichsten, menschenunwürdigen digitalisierten Abschaumes, machte ihn krank. Er wusste im gleichen Augenblick, dass ihre Arbeit gerade erst begonnen hatte. Stundenlange Auswertungen des Materials lagen vor ihnen. Die Sichtung der Videos würde ihnen manchen Albtraum bescheren. Selbst die erfahrensten Kriminalbeamten, er und Reuter war solche stießen an die Grenzen des menschlich erträglichen und weit darüber hinaus. Dies wusste Schüler nur zu gut, er durchlebte es schließlich immer wieder. Die schrecklichen Bilder gingen einem nicht mehr aus dem Kopf und nicht wenige der ermittelnden Kriminalbeamten ließen sich meistens ganz schnell in ein anderes Dezernat versetzen. Als Polizist Verbrechen zu lösen ist eine Sache, aber unmenschliche Gräuel mental zu verarbeiten, darauf bereitete die Polizei die Beamten nicht vor.
Nach der letzten polizeilichen Kriminalstatistik, die Schüler kürzlich gelesen hatte, gab es im Jahr 2018 allein fast 14.000 Fälle von sexueller Gewalt gegenüber Kindern. Das waren im Schnitt 40 sexuelle Übergriffe pro Tag mit einer von Jahr zu Jahr steigenden Tendenz. Außerdem gab es 7.449 Vorkommnisse von Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung von Kinderpornografie. Auch diese Zahlen stiegen jährlich, im letzten Jahr sogar um fast 14 Prozent. Hauptkommissar Schüler wusste aber gleichzeitig, dass die Dunkelziffer noch wesentlich höher lag. Forschungen hatten ergeben, dass jeder siebte bis achte in Deutschland sexuelle Gewalt in Kindheit oder Jugend erlitten hat.
„Was gibt es nur für widerliche Menschen “, sagte einer der nahestehenden Beamten in Uniform, der kopfschüttelnd an der Tür stehend, einen Blick auf die Computer geworfen hatte.
„Zum Glück haben wir hier die Scheißtäter drangekriegt. Mit etwas Glück kriegen die sogar die Höchststrafe von zehn Jahren, was meiner Meinung immer noch viel zu wenig ist. Aber die Arschlöcher, die sich diesen Schmutz reinziehen, kommen mit maximal zwei Jahre davon und kriegen diese oft auch noch Bewährung. Wenn man bedenkt, dass ein Ladendieb bis zu fünf Jahre Knast bekommen kann, muss man sich nicht wundern, dass in unserem Staat eine rechte Partei Zulauf bekommt“, antwortete ein anderer Kollege.
Schüler verstand die Frustration seiner Kollegen nur zu gut. Hunderttausende Kinder jeden Alters, auch Babys, werden oft mit unglaublicher Brutalität missbraucht, – meist von Männern, doch nicht ausschließlich, es gibt sogar Frauen unter den Tätern. Des Öfteren tauchen Fotos und Filme von Kinderschändern beiderlei Geschlechts im Internet auf. Die Betrachter solcher Aufnahmen sitzen weltweit zu Zehntausenden vor ihren Monitoren. Daheim in Büros oder Hotelzimmern, geben sie sich ihren gestörten sexuellen Fantasien hin, viele davon auch in Deutschland. Sie waren genauso schuldig wie die Täter, die sie heute festgenommen hatten, die ihre Opfer malträtierten, filmen und fotografieren. In Schüler und Reuters Augen waren die Betrachter genauso Verbrecher, das war seine feste Überzeugung. Sie erzeugten eine Nachfrage, die das abscheuliche Geschäft mit den schwächsten, unschuldigsten unserer Gesellschaft, unseren Kindern erst möglich machten. Diese Kinder blieben bildlich gesprochen ein Leben lang Opfer, denn das Internet vergisst nicht. Jeder Klick auf ein Foto oder einen Film kann als neuer Missbrauch gewertet werden. Hinzu kommt noch eine den Taten unverhältnismäßige Strafverfolgung durch die Justiz.
Laut Paragraf 176 des Strafgesetzbuches heißt es:
„Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder sich von dem Kind vornehmen lässt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft.“
In den meisten Fällen werden Täter aber als arme Kranke abgetan, von Richtern mit milden Strafen und einem Strafmaß von unter zwei Jahren belegt. Diese wird oft auch noch auf Bewährung ausgesetzt. Ein Grund dafür ist, damit die Gefängnisse entlastet werden, denn unter zwei Jahren muss man nicht zwingend in den Knast. Es ist fast lachhaft, wenn es nicht so unendlich traurig wäre. Achtundachtzig Prozent der deutschen Bürger ist für höhere Strafen, hatte er kürzlich einer Umfrage entnommen, aber der Staat reagiert nicht mit einer strengeren Gesetzgebung.
Schüler hatte vor Jahren in einem Urlaub in Singapur erfahren, dass dortzulande pädophile Missbrauchstäter selten unter 20 Jahre weggesperrt wurden und zusätzlich noch Stockhiebe bekamen. Die niedrigen Statistiken in dem Stadtstaat gaben der strengen Gesetzgebung recht, es gibt dort wenig Missbrauch an Kindern. Natürlich stoßen Stockhiebe bei sozialen Weltverbesserern auf Unmut, aber die Täter als arme Kranke, die therapiebedürftig sind, abzutun, konnte er auch nicht nachvollziehen. Nicht, nachdem was er alles erlebt und gesehen hatte.
„Lasst uns zusammenpacken und dann raus hier, den Rest soll die Spurensicherung machen“, rief Reuter seinen Kollegen zu.
„Gut Franz wird auch Zeit, ich bekomme hier bei diesen unfassbaren Dingen keine Luft mehr“, antwortete Schüler erleichtert, das Haus verlassen zu können.
Kapitel 2
Greetsiel, 1977, 3. September
Das Schicksal spielt dem Unschuldigen oft übel mit und mit den unvorhergesehenen Konsequenzen muss er sich ein Leben lang plagen. Ich kann nicht sagen, warum es mich gerade an diesem fürchterlichen Tag auserwählt hatte, aber so war es nun einmal. Ein arglistiges Spiel zwischen dem Teufel, dem Sensenmann und dem Schicksal hatte stattgefunden. Sie spielten, wie seit aller Ewigkeit, ihre grausamen Partien um die Seele, den Tod sowie das Leben. Ein jeder bekam am Ende, was er begehrte. Der Teufel, die Seele, der Sensenmann, den Tod, das Schicksal, das Leben. Es lag an Heimtücke, Intriganz und Zweifel, die ständigen Begleiter dieses Spiels, dass es nie in der Lebensgeschichte einen richtigen Gewinner gab. Der Teufel und der Sensenmann waren ständig eifersüchtig auf das Schicksal und machten seinen Preis in diesem Fall mein Erdenleben, niemals einfach. Doch welches Leben hatte ich mir oft die Frage gestellt, ist das schon.
Alles hatte an dem Tag begonnen, als das kleine Fischerboot meiner Familie sich durch die mit weißen Schaumkronen besetzten Wellenkämme der aufgewühlten Nordsee kämpfte. Unser in Greetsiel beheimateter Krabbenkutter ächzte beschwerlich in dem von Minute zu Minute stärker werdenden Seegang. Es war nicht leicht, in der schweren See den Kurs zu den Fanggründen vor dem Riff der vorgelagerten Ostfriesischen Inseln zu halten. Immer wieder schlug der Rumpf des Bootes seitlich in die stetig größer werdenden Brecher. Bei jedem Manöver des Schiffes schossen die Wassermassen sintflutartig übers Deck, schüttelte meinen Bruder und mich hin und her. Die tückische Nordsee zeigte wieder einmal ihre berühmte Unberechenbarkeit in einem immer stärker werdenden Sturm. Radiomeldungen der regionalen Küstensender hatten frühzeitig alle Schiffe vor dem Auslaufen gewarnt, aber der alte Sturkopf Aarhus, mein Vater, wollte davon absolut nichts wissen. In seiner bekannten Engstirnigkeit und verbohrten Eigensinn hatte er trotzdem mit seinem Kutter den schützenden Hafen verlassen. Er sei schließlich derjenige, der das Geld für die Familie verdienen musste, und das brachte nur der Krabbenfang, war seine einzige Entschuldigung an uns, seine beiden Söhne.
„Der versoffene Alte bringt uns noch um mit seinen Scheißkrabben“, schrie Jens, mein eineiiger Zwillingsbruder, mir zu, als auch schon der nächste kapitale Brecher mit brachialer Gewalt über die Bordwand unseres kleinen Krabbenkutters krachte.
Seit Stunden kämpften wir mit den unerbittlichen Elementen, holten Netz für Netz von den Tiefen des Meeresbodens. Der Laderaum war prall gefüllt und es war ein guter Fang trotz, oder gerade wegen der gefährlichen Wetterlage. Vielleicht spielte auch der Umstand, dass wir das einzige Boot, das bei diesem Unwetter hier draußen war, dabei eine Rolle.
„Das ist das letzte Netz und dann ist Schluss. Wir müssen zurück in den Hafen, sonst saufen wir noch ab bei diesem Sauwetter“, rief ich durch den tosenden Wind zurück.
Durchnässt und ebenso fröstelnd wie ich selbst, stand mein Bruder Jens in seinem gelben, wasserfesten Ölzeug mit den schwarzen hohen Gummistiefeln und der Kapuze tief ins Gesicht gezogen, an Deck. Er grinste mich an, hob den Daumen und signalisierte damit seine Zustimmung.
Jens und ich verstanden uns blind, wie es eben eineiige Zwillinge tun. Wir brauchten nie viele Worte. Seit frühster Jugend hatten wir eine Art telepathische Verständigung und waren uns meistens einig, speziell wenn es um unseren Alten ging.
Wir waren die einzigen beiden Söhne von Albrecht Aarhus, in vierter Generation Granatfischer in Greetsiel, einem winzigen Ort an Ostfrieslands Küste. Wir lebten zusammen mit unseren Eltern in einem kleinen roten Backsteinhaus hinterm Deich. Mutter war Hausfrau und wir, die Söhne halfen, wie es seit jeher Brauch war, dem Vater beim Fang des kostbaren Granats, wie die Garnelen der Nordsee landläufig genannt wurden. Falls es nach dem Willen unseres Alten gehen würde, war unsere berufliche Laufbahn vorbestimmt. Genauso wie alle unsere Vorfahren auch, würden Jens und ich einmal Krabbenfischer werden. Mein Bruder, im Gegensatz zu mir liebte das Meer und ihm gefiel das lockere Fischerleben. Ich aber hatte andere Pläne für mein Leben. Danach fragte der Alte jedoch nicht, für ihn stand fest, beide Söhne werden in seine Fußstapfen treten und damit Ende der Diskussion. Als eineiige Zwillinge waren Jens und ich jeweils das Spiegelbild des anderen. Alle Leute im Dorf verwechselten uns ständig, was wir oft genug zu unserem Vorteil ausnutzten. Mit einer stattlichen Größe von 185 cm waren wir für unsere 17 Lenze hochgewachsene Burschen. Es war aber zu bezweifeln, dass wir noch größer wurden, unsere früh einsetzende Wachstumswut hatten wir genauso zeitig beendet, wie sie begann. Jens sowie ich hatten beide dichte, blonde Haare, stahlblaue Augen, waren von kräftiger Statur und hatten markante männliche Gesichter. Unser vorteilhaftes Aussehen machte in Greetsiel manchen Vater der Töchter im Teenager Alter hatte große Sorgen. Was soll ich sagen, wir standen bei den jungen Mädchen sowie auch mancher verheirateten Frau im Dorf, halt hoch im Kurs. Man konnte von uns behaupten, was man wollte, aber mein Bruder und ich waren in dieser Hinsicht ganz bestimmt keine Kinder von Traurigkeit. Es gab wegen unserer vielen Amouren schon einigen Stunk und viele gebrochene Herzen in Greetsiel und Umgebung.
Ein weiterer Brecher schlug über die Bordwand und das salzige, eiskalte Meerwasser schwappte über das Deck. Der Alte, wie wir unsern Vater immer abfällig nannten, hielt sich bei den Fangfahrten vor der Küste nur im Ruderhaus des Kutters auf. Von dort steuerte er, der Kapitän, wie er sich großkotzig betitelte, hoch und trocken das Boot. Seine zweite Aufgabe war es, vom Steuerhaus die Winden für die Netzeinholung zu betätigen. Am wichtigsten war es für ihn, dort konnte er in Ruhe seinen Rum trinken und seinen Söhnen die Befehle zuschreien. Wir verabscheuten seine Tyrannei, sein despotisches Gehabe, vor allem aber seine gewalttätigen Neigungen zutiefst. Speziell, wenn er trank, was fast immer der Fall war, schlug er außerdem gerne einmal zu. Wenn ihm etwas nicht in den Kram passte, musste unsere Mutter und oft genug auch wir seine Söhne herhalten. In letzter Zeit aber konnte er, da wir ihm zu groß geworden waren, seine unkontrollierten, wilden Wutausbrüche nicht mehr so richtig an uns auslassen. Ich hatte dem Alten bei einer seiner üblichen, versoffenen Eskapaden sogar gedroht, ihn umzubringen, wenn er auch nur noch einmal versuchen würde, seine Hand gegen uns zu erheben. Dumm war der Alte keineswegs, und er wusste genau, wann er seine Grenzen bei mir und Jens erreicht hatte. Dafür wandte sich seine Gewalt heimlich mehr unserer Mutter zu. Aus Angst davor, wir würden dem Alten etwas antun, ihre blauen Flecken immer geschickt vor uns verbarg. Sie verteidigte den alten Säufer obendrein, anstatt ihn wegen seiner üblen Misshandlung anzuzeigen. Wir konnten nichts dagegen tun. Mutter war vom alten Schlag und hielt zu ihrem Mann. In guten wie in schlechten Zeiten, wie es so schön hieß.
Was ist das nur für ein elendes Scheißwetter, dachte ich im Stillen bei mir. Meine Befürchtung war, dass das kleine Lüftchen, wie der Alte es abfällig nannte, sich mehr und mehr zu einem ausgewachsenen Orkan entwickelte. Am Horizont konnte ich die sich auftürmenden schwarzen Wolken sehen, die unheilvoll drohend ihre ersten Blitze wie apokalyptische Reiter der Hölle in sich tanzen ließen. Ein Inferno der Naturgewalt bahnte sich an, das mit seinen Vorboten von ständig zunehmenden starken Böen immer höherschlagenden Wellen seinen Respekt verlangte.
„Wir müssen schnellstens zurück in den Hafen, es ist reiner Selbstmord unter diesen Bedingungen weiter zu fischen. Scheiß auf das letzte Netz“, schrie ich meinem Bruder zu.
„Du hast ja recht, Sven, aber der Alte will von alldem nichts wissen, Sven“, rief Jens zurück.
„Ihr sollt hier nicht rumschnattern, ihr Memmen und nichtsnutzige Landratten, macht gefälligst eure Arbeit und pisst euch nicht gleich in die Hose bei dem bisschen Wind“, schimpfte der Alte wie Kapitän Ahab bei Moby Dick aus dem Ruderhaus und nahm einen tiefen Schluck aus seiner Flasche Rum.
Ich hatte früh gelernt, dass zum Einholen der Netze, der Kutter in den Wind gefahren wird, das heißt Wind und Wellen kommen von vorne, damit das Schiff möglichst ruhig liegt und bei Seegang nicht rollt. Dafür sind viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl angesagt, da die Bäume mit den nassen und gefüllten Netzen ein großes Gewicht, weit über der Wasserlinie tragen. Die Gefahr bei solch einem Manöver aufgrund des hohen Schwerpunktes zu Kentern war nicht zu unterschätzen. Der Alte schrie aus dem Ruderhaus den Befehl, die Netze einzuholen. Mit gebeugten Körpern und gestreckten Armen zogen Jens und ich gleichzeitig die Bäume Steuerbord wie Backbord, mit den Kurren, an denen die Netze mit dem allerorts begehrten Granat hängen, über den Auffangtrichter. Nachdem mein Steuerbordnetz seine Fracht ausgespuckt hatte, neigte sich der Kutter plötzlich gefährlich zur Backbordseite.
„Der Alte hat die Kontrolle verloren, wir sind aus dem Wind“, schrie Jens aufgeregt und haderte mit seinem Netz.
In letzter Sekunde konnte er die Leine für den Auswurf noch ziehen, aber der Fang des Backbordnetzes ergoss sich in einem Schwall übers Deck und nicht in den Auffangtrichter. Der ganze Granat, Fisch, Krebse sowie anderes Meeresgut lag auf den Decksplanken verteilt und bildete eine gelbbraune zuckende Masse.
„So ein versoffenes Arschloch“, fluchte ich laut. „Wir rollen, der Alte kann den Pott nicht mehr halten“, schrie ich in den Wind.
Im gleichen Augenblick wurde der Kutter von einer schweren Welle seitlich erfasst und mit großer Wucht zur Steuerbordseite geworfen. Ich konnte mich gerade noch an einer Leine festhalten, sonst wäre ich über Bord gespült worden. Froh darüber, dass sich das Boot wieder stabilisierte, blieb mir im gleichen Moment die Fröhlichkeit im Hals stecken. Wo war mein Bruder Jens, ich konnte ihn nirgends mehr an Deck ausmachen. Panik erfüllte mich sofort durch und durch eine brutale Wahrheit nahm ungewollt Besitz von meinem Denken. Mit weit aufgerissenen Augen suchte ich die Meeresoberfläche ab. Dann sah ich entfernt hinter dem Kutter etwas Gelbes im Meer treiben, Jens schoss es mir sofort durch den Kopf, das kann nur er sein.
„Mann über Bord“, schrie ich, wie vom Teufel beseelt und rannte zum Ruderhaus, wo mein Vater sich krampfhaft mit irrem Blick in den Augen am Steuerruder festhielt. Er blutete aus einer leichten Platzwunde an der Stirn. Eine fast leere Flasche Rum rollte im Steuerhaus auf dem Boden von einer Seite zur anderen, ergoss ihren letzten Inhalt über die Deckplanken.
„Hast du mich nicht gehört, du alter, versoffener Nichtsnutz?“, schrie ich ihn an. „Jens ist über Bord gegangen, dreh bei, wir müssen ihn sofort aus dem Meer holen“.
Als der Alte immer noch nicht reagierte, nur teilnahmslos vor sich hinstarrte, nahm ich ihn einfach bei Schulter und schob ihn beiseite. Er fiel auf den Boden, aber das interessierte mich wenig. Ich riss das Ruder herum und versuchte verzweifelt durch die Scheibe des Ruderhauses das gelbe Ölzeug meines Bruders zwischen den auf- und absteigenden Wellenkämmen auszumachen. Doch so sehr, wie ich mich auch anstrengte, ihn irgendwo im Wasser ausfindig zu machen, es war alles vergeblich, ich konnte ihn nirgends mehr entdecken. Über den Seenotrettungsruf informierte ich umgehend die Behörden, gab ihnen unsere Koordinaten durch und hoffte inbrünstig auf schnelle Hilfe. Aber irgendwie in meinem Inneren wusste ich, es würde für Jens keine Rettung mehr geben. Die untrügliche Befürchtung traf mich wie ein Keulenschlag. Das Meer hatte sich Jens geholt, wie so viele vor ihm. Der Alte saß mit hilflosem Blick auf den Decksplanken des Steuerhauses und lallte unverständliche Wörter vor sich hin. Ich kreuzte mit dem Kutter noch eine weitere halbe Stunde vor und zurück, doch ich konnte nirgendwo etwas im Meer entdecken. Ich durfte und wollte nicht aufgeben, die Hoffnung stirbt zuletzt, pflegte meine Mutter immer zu sagen. Doch was nutzt mir die Hoffnung, wenn die Gewissheit sie mit Füßen tritt. Unentwegt strömten jetzt Tränen mein Gesicht herunter, die sich mit den salzigen Überresten des Meerwassers zu einem bitteren Rinnsal von Trauer und Wut vermischte.
Nach einer Stunde sah ich die ersten Lichter der Seenotrettungskreuzer aus den benachbarten Küstenorten. Mit ihren starken Scheinwerfern suchten sie die tobende Meeresoberfläche ab. Sogar ein Marinehubschrauber war zur Suche hinzugezogen worden. Doch auch sie alle konnten meinen geliebten Bruder nicht finden, das Meer hatte ihn verschlungen. Unser kleiner Kutter tat sich jetzt immer schweren im heftigen Seegang und nahm zu viel Wasser auf, das die Lenzpumpen kaum noch dagegen ankamen. Ich musste, so hart es mir auch fiel, letztendlich eingestehen, dass es hoffnungslos war, meinen Bruder noch weiter zu suchen. Die unerträgliche Realität setzte plötzlich ein. Jens war ertrunken, die raue Nordsee hatte ihn verschlungen. Resigniert drehte ich den Bug des Kutters in Richtung des Hafens von Greetsiel.
Hasserfüllt blickte ich auf meinen Vater, der am Boden des Ruderhauses saß und jetzt still und leise vor sich hin weinte. Ich hatte kein Mitleid und auch kein Mitgefühl für den Trunkenbold. Er allein trug die ganze Schuld am Tod meines Bruders, ich würde ihm nie vergeben können.
Im Hafen an der unteren Kaimauer wartete bereits eine größere Menschenmenge. Die Nachricht vom tragischen Unglück auf See hatte schon die Runde gemacht. Alle möglichen Leute, Nachbarn, Fischer, Polizei, Sanitäter sowie einige Schaulustige standen mit betroffenen Gesichtern erwartungsvoll an den Kaianlagen. Sie alle wollten wissen, was sich da draußen auf dem Meer abgespielt hatte. Was ging es sie an, fragte ich mich innerlich, sollten sie alle gemeinsam zur Hölle fahren. Ich wollte mit niemanden reden, ich wollte nur fort von dem Schiff fort von meinem versoffenen Vater. Soll der Alte ihnen erzählen, wie es zu der schrecklichen Tragödie gekommen war. Das er durch seine ewige Sauferei, den Tod seines Sohnes zu verantworten hatte.
In der versammelten Menschmenge entdeckte ich meine Mutter. Nachdem ich den Kutter festgemacht hatte, sprang ich von Bord, die Menschenmenge am Kai machte bereitwillig Platz und keiner stellte sich mir in den Weg. Sie sahen mir an, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Ausnahmslos mitleidige Blicke wurden mir schweigend zugeworfen, doch es war mir egal. Ich nahm meine Mutter wortlos in den Arm und führte sie aus der Menge nach Hause. Dort erklärte ich ihr, dass der Alte durch seine Sauferei, die Schuld am Tod ihres Sohnes, meines Bruders Jens, ganz allein trüge. Ich machte ihr unmissverständlich klar, dass ich nicht länger mit ihm unter einem Dach leben konnte. Keine weitere Stunde, sonst würde ein zusätzliches Unglück passieren, waren meine genauen Worte. Daraufhin packte ich meine wenigen Sachen in meinen Rucksack, zog meinen Pass aus der Schublade an meinem Bett und steckte ein Foto meines Bruders und meiner Mutter ein. Ich küsste meine geliebte Mutter ein letztes Mal zum Abschied, versprach ihr auf mich aufzupassen. Noch am selben Abend verließ ich das kleine Backsteinhaus, in dem ich mit meinem Bruder groß geworden war. Mein Entschluss stand fest, ich wollte meinen Vater niemals wiedersehen. Der Teufel sollte sich mit seiner Seele zufriedengeben. Der Sensenmann hatte sich meinen Bruder geholt und mich bat das Schicksal, nachdem ich die ganze Nacht durchgereist war, am nächsten Morgen in die Aufnahmestelle der Fremdenlegion „Quartier Lecourbe“ – 1 Rue Ostende in Strasbourg, Frankreich einzutreten.
Kapitel 3
Greetsiel, 2019, 10. Juli
Zurück an dem Ort, wo vor mehr als vierzig Jahren mir das Schicksal so fragwürdig mitgespielt hatte, musste ich mich erst einmal neu eingewöhnen. An der windigen Küste Ostfrieslands erfreuten sich die letzten Spaziergänger auf dem Seedeich an der malerischen Idylle der untergehenden Sonnenscheibe über dem Wattenmeer der Nordsee. Die in Scharen wandernden Touristen ergötzten sich empfänglich an den satten gelben und roten teils fast violett wirkenden Farben am Himmel. Solange, bis sie in einem spektakulären, sich ständig verändernden Schauspiel mit den Wolken, wie der rinnende Sand in einer Sanduhr, ihr unaufhaltsames Ende fanden. Die romantische Atmosphäre strahlte Ruhe und Seelenfrieden aus. Doch ganz anders ging es in den belebten Straßen des kleinen Ortes Greetsiel zu. Dort spiegelte sich die andere Seite des erholsamen Tourismus wider, dass der beflissenen Urlauber, auf der Suche, nach der ungelebten Erfüllung nach Seefahrerleben. Laut und hektisch irrten die Touristen, einem Bienenstock gleichend von Geschäft zu Geschäft, Restaurant zu Restaurant, um später in den angesagten In-Kneipen ihr buntes, rastloses Treiben mit sehr viel Alkohol ausklingen zu lassen. Eine unverkennbare Mischung aus überzogener Hafenromantik, salziger Meeresluft, Kuttern, engen Gassen, Fischen, feuchten Netzen, Seetang und alten Decksplanken lockte die Urlauber in Scharen in den kleinen Ort. Trotz all der Veränderungen in den Jahren war es immer noch mein Heimatdorf und ich spürte die Verbindung in jeder Faser meines Körpers.
Es war ein schwüler Sommerabend in Greetsiel. Gegen früher war dieses bunte Treiben der Besucher schon seltsam geworden, dachte ich mir und bahnte mir mühsam meinen Weg durch die ziellosen Menschengruppen. Mit energischen Schritten strebte ich meinem Ziel eine Kneipe, an den unteren Kaianlagen des Hafens entgegen. Eins hatte sich auch nach all den Jahren meiner Abwesenheit kaum verändert, das war der ausgefallene Geruch des kleinen Kutterhafens. Der unverwechselbare Duft gab mir in irgendeiner Weise das Gefühl von alter Heimat, dass ich für so viele Jahre erfolgreich verdrängt hatte, wieder zurück. Das war auch ein Grund, warum ich seit meiner Heimkehr nach Greetsiel des Öfteren meine Abende im Hafenkieker, einem ehemaligen Lager für Nordseekrabben verbrachte. Nach meiner Rückkehr vor zwei Jahren, bei einem meiner ersten Rundgänge durch den Ort meiner Jugend, hatte ich zu meiner Verwunderung feststellen müssen, dass das alte Gebäude, in dem früher der angelandete Granat am Hafen gleich verarbeitet wurde, zu einer Kneipe umgebaut worden war. Ich lernte, dass heute der Granat zum Pulen, wie man das Schälen der Krustentiere in Ostfriesland nennt, per Luftfracht nach Marokko geschickt wurde. Es war dabei für mich nicht so richtig nachvollziehbar, dass es kostengünstiger sein sollte, als den Granat direkt hier im Herkunftsort zu verarbeiten. Früher hatten sich viele der ansässigen Familien durch das Granat Pulen ein Taschengeld dazuverdient. Unsere heutige Wohlstandsgesellschaft brauchte diese Nebeneinkünfte aber nicht mehr. Außerdem war das Pulen von Krabben eine miesbezahlte Arbeit, für die sich niemand mehr hergab. Mindestlohn in Deutschland und billige Arbeitskräfte in Marokko bedeuteten das Aus für diese Tätigkeit. Das war aber nicht das Einzige, was mir seit meiner Rückkehr im Hafen aufgefallen war. In den Siebzigerjahren gab es noch fast fünfzig Fischkutter in Greetsiel, die den einheimischen Familien des Ortes Arbeit und Lohn gebracht hatten. Heute zählte ich einmal gerade 23 Kutter an der Pier. Greetsiel hatte sich von einem kleinen verträumten Fischerdorf in eine von auswärtigen Urlaubern übernommene Touristenhochburg verwandelt. Hunderte neuer Häuser waren in den letzten Jahren ausnahmslos zum Zweck der Ferienvermietung hinterm Deich gebaut worden. Viele der schönen alten Fischerhäuser im Ort waren geschmackvoll und mit Aufwand umgebaut worden. Sie boten teilweise zusätzlich überteuerte Ferienwohnungen an oder beherbergten Kneipen, Restaurants und Souvenirshops mit Ostfriesenschnickschnack für die Touristen.
„Tempo mutantur, nos et mutamur in illis“. „Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen“, fiel mir dazu nur ein und ich musste lächeln über den Wandel der Zeit.
Unberührt vom teils pöbelhaften Treiben der rastlos lebhaften Touristen betrat ich den Hafenkieker und nahm meinen Stammplatz am hinteren Ende der Theke ein. Andrea, die blonde, immer freundliche Bedienung, stellte mir mit einem knappen Hallo freundlich lächelnd ein Jever Bier hin. Es war ihre Art von Begrüßung, wenn sie viel zu tun hatte. Sie würde später, wenn es ruhiger geworden war, Zeit finden, mit mir ein paar Worte zu wechseln. Ich ignorierte die verstohlenen Blicke sowie die tuschelnden Gespräche der wenigen Einheimischen, die sich an manchen Abenden hier auch gern mal ein Bier gönnten. Die meisten wussten, wer ich war und die Alten unter ihnen konnten sich sogar noch an das Unglück von damals erinnern. Keiner von ihnen hatte jedoch nur annähernd eine Ahnung davon, wo ich die letzten vierzig Jahre abgeblieben war. Die Gerüchte scherrten mich wenig und ich fand auch keinen Grund dafür, warum ich jemand etwas über mich erzählen sollte. Natürlich half meine Zurückhaltung anderen gegenüber nicht gerade das Gerede hinter meinem Rücken zu beenden, sondern bewirkte ganz eher Gegenteil. Mir war klar, dass ich im Ort, trotzdem ich hier geboren und aufgewachsen war, als ein Außenseiter galt. Einige wenige begannen sich aber langsam an mich zu gewöhnen und begrüßten mich freundlich.
Ich war trotz meines nicht mehr taufrischen Alters von knapp über sechzig Jahren immer noch immer eine imposante Erscheinung. Meine stattliche Größe von 185 cm, mein wettergegerbtes Gesicht, die stechend blauen Augen und meine dichten, mittlerweile grau gewordenen langen Haare, die mir bis zu den Schultern hingen, gaben mein Äußeres etwas Verwegenes. Hinzu kamen muskulöse Arme, die mit unzähligen Tattoos übersät waren, ein sichtlich durchtrainierter Körper und ein langer Schmiss, der sich über meine linke Wange bis zum Kinn erstreckte. Dass die Leute automatisch auf Abstand blieben, glaube ich, lag auch an der unübersehbaren Narbe. Sie war ein Zeuge meiner bewegten Vergangenheit und wirkte auf viele wie ein Warnzeichen, das mit mir nicht allzu gut Kirschenessen war. Ich gab nicht allzu viel auf mein Aussehen, aber auf meine strahlend weißen Zähne war ich schon immer stolz gewesen. Wenn ich einmal lächelte, was selten der Fall war, blitzten sie aus meinem Mund, verfehlten niemals ihre Wirkung auf das weibliche Geschlecht. Darüber hinaus hatte meine Stimme einen angenehmen, sonoren, sanften Ton, die, wenn ich denn sprach, meine Zuhörer sofort in ihren Bann zog.
Mit Andrea, der gutgebauten Bedienung, hatte ich mich über die letzten Monate ein wenig angefreundet und…………….